Es ist Hamburgs sonderbarster Stadtteil: Die Insel Neuwerk an der Elbmündung, wo knapp 40 Menschen leben. Vor 50 Jahren wurde das Eiland endgültig Teil des Hamburger Stadtgebiets. Damals war die Eingemeindung nur ein Mosaikstein in einem großen Projekt. – Von Florian Tropp
Wer heute den Hamburger auf der Straße fragt, welcher der westlichste Punkt seiner Heimatstadt sei, der wird auf Ratlosigkeit stoßen. Nach kurzem Überlegen wird man vielleicht „Rissen“ oder „Blankenese“ zur Antwort erhalten. Doch weit gefehlt!
Weit draußen – nahe der Außenelbe – liegt Neuwerk. Das Eiland an der Elbmündung hat eine wechselvolle Geschichte. Seine Zugehörigkeit zu größeren Territorien wechselte mehrfach, erst vor 50 Jahren wurde Neuwerk endgültig Teil Hamburgs. Wie kam es dazu?
In den 700 Jahren zuvor war Neuwerk bereits überwiegend Bestandteil des Hamburgischen Staatsgebietes gewesen. Wann genau Neuwerk zu Hamburg kam ist unklar, im 14. Jahrhundert aber war die Insel bereits fest in Hamburger Hand.[1]
Streit um den Flecken Land
Namensgebend für das Stück Land war der Turm Neuwerk, der, 1310 fertiggestellt, als ältestes Bauwerk auf Hamburger Territorium gelten kann. Ein Titel, um den sich der Turm allerdings mit der Kirche Sinstorf streitet, die jedoch gleich mehrfach zerstört wurde und sich zudem die meiste Zeit nicht auf Hamburger Grund befand.
Von nun an versuchte auf Neuwerk eine kleine Gruppe Landsknechte Hamburgs Ansprüche durchzusetzen und Schmuggler sowie Seeräuber auf Distanz zu halten. Jedoch war auch der Hadelner Landadel an einer Einverleibung der Insel in sein Hoheitsgebiet interessiert. Hamburg erwies sich bei dieser Kraftprobe aber als überlegen: 1393 wurde das Amt Ritzebüttel, Hauptsitz der Hadelner, von Hamburg inkorporiert. So kam später Cuxhaven zu Hamburg.[2]
Neuwerk wurde, mit den bescheidenen Mitteln jener Zeit, gegen die Naturgewalten gesichert und prosperierte, weitgehend ohne besondere Ereignisse. Erst ab 1644 fungierte eine hölzerne Feuerblüse als Seezeichen. Während der Hamburger Franzosenzeit besetzten kurzeitig britische Schmuggler die Insel, wurden aber schnell wieder vertrieben. Während Helgoland ab 1807 britisch verwaltet wurde, blieb Neuwerk bei Hamburg. Genau wie Cuxhaven profitierte die Insel seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom immer mehr in Mode kommenden Seebadtourismus. Cuxhaven erhielt 1907 sein Stadtrecht, blieb aber mit Hamburg assoziiert.
Die entscheidende Zäsur für Neuwerk kam mit dem Groß-Hamburg-Gesetz von 1937. Vorwiegendes Ziel war hierbei die Abrundung des Hamburger Stadtgebietes, was primär durch Einverleibung der eigenständigen Städte Altona, Wandsbek und Bergedorf geschah. Ebenso wurde Harburg der Hansestadt angegliedert, das vorher Teil der preußischen Provinz Hannover gewesen war. Zur Kompensation gingen Cuxhaven und Neuwerk in preußischen Besitz über. Hamburg behielt allerdings die Souveränität über den Amerika-Hafen in Cuxhaven, samt Steubenhöft. Dies blieb auch nach Kriegsende und der Formierung des Bundeslandes Niedersachsen der Fall.
Ein Tiefwasserhafen in der Elbmündung?
Hamburgs Wirtschaft erlebte nach 1945 einen rasanten Wiederaufstieg und der Hafen wurde wieder zu einer Drehscheibe für internationale Handelsgüter. Seitens des Senats wurden bald hochtrabende Pläne formuliert, die heute überdimensioniert anmuten: Die Stadtplaner ersannen die Idee eines Tiefwasserhafens in der Elbmündung, rund um Neuwerk.
Paul Nevermann, damals Hamburgs Erster Bürgermeister, sprach 1961 im Hinblick auf Hamburg von der „Raumsicherung für die Zukunft.“[3] Der Spiegel schrieb des Weiteren: „An den Kais, die unmittelbar vor dem über 20 Meter tiefen Nordsee-Schifffahrtsweg liegen würden, könnten selbst Mammut-Tanker von 130 000 Tonnen, wie sie jetzt in Japan gebaut werden sollen, ohne Schwierigkeiten festmachen.“[4]
Hamburgs Zukunft sollte in der Elbmündung liegen! Dementsprechend forcierte die Hansestadt einen Kauf von Neuwerk und Umland. Niedersachsen schien auch nicht allzu erpicht darauf, die Eilande in der Elbmündung im eigenen Besitz zu halten. Zwar vermutete man in Hannover Ölfelder in der Nordsee, nahm aber an, diese lägen anderswo im Watt.[5] Niedersachsen forderte eine Ausdehnung seines Gebiets im Cuxhavener Hafen als Ausgleich für die Landübergabe, was als vorteilhaft für die Seewirtschaft erachtet wurde.

Ergebnis der intensiven Verhandlungen war der „Cuxhaven-Vertrag“, der am 3. Oktober 1961 von Vertretern Hamburgs und Niedersachsens unterzeichnet wurde. Der schwammige Vertragstext erwähnte die Insel lediglich indirekt. Das „sogenannte Neuwerker Watt“[6] wurde allein mit geografischen Koordinaten umschrieben. Dass nicht nur Fläche, sondern auch neue Bürger an die Hansestadt fielen, erwähnt der Vertrag nicht.
Der Senat hatte dem Vertrag schon im Sommer 1961 Tür und Tor geöffnet, die regierende SPD und die Opposition aus CDU und FDP waren in dieser Frage einer Meinung. Wilhelm Imhoff, seinerzeit Wortführer der Christdemokraten im Senat stellte in der Debatte fest: „Das ist die wichtigste Vorlage, die die Bürgerschaft in dieser Legislaturperiode bekommen hat. Sie fordert geradezu Einstimmigkeit heraus.“ Der geplante Vorhafen sei „bedeutendes Gegenstück zum Europoort-Hafen [in Rotterdam].“[7] Alfred Frankenfeld von der FDP regte gar an, den ersten Spatenstich hierfür, zumindest symbolisch, am 7. Mai 1964 zu tätigen – dem 775. Hafengeburtstag. [8]
Eile bestand aber offenbar nicht. Erst im Herbst 1962 kamen auf Neuwerk Hamburgs Bürgermeister Nevermann und Niedersachsens Ministerpräsident Diederichs zusammen und tauschten im Herrenzimmer des Neuwerker Turms feierlich die Vertragsurkunden aus. Einmütig wehten an diesem Tag die Flaggen der Bundesrepublik, Hamburgs und Niedersachsens am backsteinroten Bauwerk.[9] Zur endgültigen „Umetikettierung“ der Neuwerker zu Hamburger Bürgern musste allerdings noch der Bundestag zustimmen, so lange blieben sie Niedersachsen.
Aus vorm ersten Spatenstich
Die Euphorie rund um den geplanten Hamburger Vorhafen auf jener Fläche, die die Stadt von Niedersachsen erhalten hatte, ebbte bald ab, trotz scheinbar günstiger Machbarkeitsstudien. 1967 konstatierte das Hamburger Abendblatt: „Die Nutzung des 9000 ha großen Seegebiets bei Neuwerk, unmittelbar an der 20 Meter tiefen Fahrrinne, ist vorerst Zukunftsmusik. Das muß einmal deutlich gesagt werden. Sicher, dieses rechtzeitig gesicherte Gebiet ist eine bedeutende Zukunftsreserve mit hervorragenden Standortvorteilen und Entwicklungsmöglichkeiten. Aber wann es einmal als Deutschlands Tiefwasser- Hafen gebraucht wird, läßt sich heute noch nicht sagen. Vordringlicher ist auf jeden Fall der Ausbau des historischen Hafens.“[10] Als wollte die Zeitung die Wichtigkeit betonen, war der Artikel mit Farbfotos illustriert.
Derweil veränderte ein weiteres Element die Sachlage rund um den Vorhafen in der Elbmündung: Der Seefracht-Container trat seinen Siegeszug an. 1966 lief die Bell Vangaurd, das erste deutsche Containerschiff, vom Stapel. Für Hamburg gewann der Ausbau des Containerterminals am Burchardkai immer mehr Priorität gegenüber einem Vorhafen in der Elbmündung, dessen Konzipierung auf wackeligen Beinen stand.
Fast wären die Neuwerker inmitten dieser Planspiele vergessen worden. Erst nach sich jahrelang hinziehenden Verhandlungen mit Niedersachsen erfolgte die Übereinkunft zur Eingliederung Neuwerks ins Hamburger Stadtgebiet zum 1. Oktober 1969. Seitdem gehört das Eiland zum Bezirk Mitte.
Der Erste Bürgermeister heißt die Neuhamburger willkommen
Erst Ende Mai 1970 besuchte Hamburgs Erster Bürgermeister Herbert Weichmann die neue Besitzung der Hansestadt. „Der neue Boß kam mit 4 PS“, titelte die Hamburger Morgenpost.[11] Per Kutsche hatte Hamburgs höchster Repräsentant von Cuxhaven aus das Watt zur Insel durchquert. Abends feierte er mit den Insulanern im Festzelt, hier sorgte der Hamburger Volkssänger Hein Timm für Stimmung. Jeder neue Hamburger Bürger erhielt zudem zur Feier des Tages einen Portugaleser.[12]
Die Idee zum Vorhafen aber kam in den 1970er Jahren endgültig zum Erliegen. Die kalkulierten Kosten für das Projekt, das u.a. einen 12-Kilometer-Damm zum Festland vorsah, überstiegen Hamburgs Mittel. Eine Kooperation mit anderen Hansestädten scheiterte am Zwist.[13] Dazu erwachte das allgemeine ökologische Bewusstsein, das die Zerstörung des Naturraums Wattenmeer kritisierte: 30.000 Bürger aus Cuxhaven und Umland unterschrieben gegen die Pläne zur „Zerstörung des Wattengebietes vor Deutschlands größtem Nordseeheilbad“.[14]
Der Hamburger Senat erklärte das Projekt offiziell im Herbst 1979 für beendet: „Die 40 Insulaner können weiteren relativ ruhigen Jahrzehnten entgegensehen[15]“, schrieb das Hamburger Abendblatt. In Bezug auf Neuwerk setzte die Stadt Hamburg nunmehr ökologische Prinzipien auf die Tagesordnung.
Dort, wo einmal Frachtriesen ihre Waren löschen sollten, wurde im Auftrag der Umweltbehörde 1989 die Insel Nigehörn aufgeschüttet. Genau wie Scharhörn, die natürlich gewachsene Nachbarinsel, ist sie ein Paradies für Seevögel. Übrigens liegt Nigehörn noch einmal vier Kilometer nordwestlich von Neuwerk. Nur für den Fall, dass Sie einem Schlaumeier mit der eingangs gestellten Frage noch eins auswischen möchten.
Literatur
- Eisermann, Kurt. Neuwerk. Erholungsinsel mit Geschichte. Bremerhaven. 2011.
- Ferber, Kurt. Der Turm und das Leuchtfeuer auf Neuwerk. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Bd 14. Hamburg. 1909. S. 1 – 36.
- Wichmann, Ernst Heinrich. Hamburgische Geschichte in Darstellungen aus alter und neuer Zeit. Hamburg. 1889.
[1] Ferber, Kurt. Der Turm und das Leuchtfeuer auf Neuwerk. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Bd 14. Hamburg. 1909. S. 1–36.
[2] Wichmann, Ernst Heinrich. Hamburgische Geschichte in Darstellungen aus alter und neuer Zeit. Hamburg. 1889. S. 280.
[3] Das Loch. In: Der Spiegel. Nr. 22/1961. S. 52-53.
[4] Ebd.
[5] Hamburger Abendblatt, 1. Juni 1970. S. 2.
[6] Anlage 1 zu Artikel 2 des Staatsvertrages. Siehe: http://www.landesrecht-hamburg.de/jportal/portal/page/bshaprod.psml?printview=true&showdoccase=1&doc.id=jlr-NeuOCuxNDStVtrGHArahmen&doc.part=X&doc.origin=bs&st=lr, zuletzt aufgerufen am 26. November 2019 um 15.00 Uhr.
[7] Hamburger Abendblatt, 29. Juni 1961. S. 3.
[8] Ebd. S. 5.
[9] Hamburger Abendblatt, 5. Oktober 1962. S. 1.
[10] Hamburger Abendblatt, 5. Dezember 1967. S. 13.
[11] Eisermann, Kurt. Neuwerk. Erholungsinsel mit Geschichte. Bremerhaven. 2011. S. 164.
[12] Hamburger Abendblatt, 1. Juni 1970. S. 2.
[13] Profit im Watt. In: Der Spiegel. Nr. 26/1970. S. 38-39.
[14] Neuer Hafen für Hamburg. In: Die Zeit. Nr. 30/1974. Siehe: https://www.zeit.de/1974/30/neuer-hafen-fuer-hamburg/komplettansicht, zuletzt aufgerufen am 26.11.2019 um 15.00 Uhr.
[15] Hamburger Abendblatt, 27./28. Oktober 1979. S. 9.