Der weite Weg zur Wasserstraße

Heute schneidet er Schleswig-Holstein wie selbstverständlich in Nord und Süd: Der Nord-Ostsee-Kanal. Seit genau 125 Jahren ist die Wasserstraße in Benutzung und wird so sehr vom Verkehr frequentiert wie weltweit kaum ein anderer Kanal. Doch bis zu seiner Einweihung war es ein weiter Weg – und der Protest gegen ihn laut. – Von Florian Tropp

Es sind grobkörnige Bilder, die den Sehnerv des Zuschauers durchaus strapazieren: Der Betrachter sieht eine Wasserstraße, flankiert von einer Adlerstatue. Drei Männer befinden sich auf dem Gewässer in einem Ruderboot. Einer paddelt langsam, ein weiterer macht vorsichtige Schritte in seine Richtung, wohlbedacht darauf, nicht über Bord zu gehen. Am Kai geht derweil ein Junge entlang und blickt kurz zurück in die Kamera. Auf der anderen Seite des Objektivs stand derweil der Brite Birt Acres.

Die wenigen Bilder von 1895 sind der Beginn der ältesten erhaltenen Filmaufnahmen, die in Deutschland entstanden. Später an diesem 20. Juni filmte Acres noch etwas spektakulärere Szenen: In Anwesenheit eines Garderegiments und zahlreicher ziviler Würdenträger des Deutschen Reichs eröffnete Kaiser Wilhelm II. feierlich den Nord-Ostsee-Kanal, das neueste Prunkstück seines Staates. Das Wetter war ebenfalls kaiserlich – was bestimmt auch den Kameramann erfreut haben dürfte.

Doch bis zu dieser Zeremonie war es ein langer Weg gewesen. Über das Für und Wider dieses Kanalbaus war in der Gründerzeit ausführlich diskutiert worden. Dabei war es keine neue Idee mit einem Kanal eine direkte Verbindung zwischen Nord- und Ostsee zu schaffen. Zudem war das 19. Jahrhundert eine Periode intensiven globalen Kanalbaus. In Ägypten wurde 1869 der Sueskanal eingeweiht, zeitgleich zum Kanal in Norddeutschland, nahm in Großbritannien der Manchester Ship Canal Form an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gruben Bagger sich durch Mittelamerika, um den Panamakanal fertigzustellen.

Der Nord-Ostsee-Kanal hatte konkrete Vorgänger. Schon im 18. Jahrhundert hatte der dänische König Christian III. den Bau des Eiderkanals forciert, der in Kiel begann und bei Rendsburg in die Eider mündete. Den Anforderungen des Industriekapitalismus genügte er aber nicht mehr. Die Anlegung eines neuen Kanals nahm noch unter dänischer Regie erste Formen an.

Die 1863 anonym erschienene Studie „Durchstich der Holsteinischen Landenge zwischen Ostsee und Nordsee“ nannte zunächst ökonomische Vorzüge eines Kanals, da am Skagerrak in der Sturmsaison immer wieder Handelsschiffe untergingen.[1] Der Autor verfocht aber auch eine Agenda im Sinne der nationalen Einigung, war doch das Gebiet, durch das der Kanal verlaufen sollte, im Spannungsgebiet mehrerer Staaten gelegen. Er kam zum Fazit: „Ich betrachte vielmehr das Unternehmen hauptsächlich als eine Aufgabe Deutschlands. Dänemark hat diese Aufgabe nur in so fern es dem deutschen Bunde sich näher anschließt, sonst kommt es nur in Betracht, weil es wegen seines Einflusses auf die Regierung des Bundeslandes Holstein nicht übergangen werden kann […].“[2] Die Eingliederung Schleswig-Holsteins in das 1871 gegründete Deutsche Reich schuf damit eine grundlegend neue Faktenlage.

Die Frage des Baus eines solchen Kanals war nun nicht mehr allein eine ökonomische, sondern ebenso eine des nationalen Prestiges. Im Zuge des nationalistischen Pathos‘ des 19. Jahrhunderts war der Bau des Nord-Ostsee-Kanals für viele Zeitgenossen ein Symbol des aufstrebenden jungen deutschen Kaiserreichs.

Die Idee des Kanalbaus durch die nördlichste Provinz Preußens wurde vielfältig angeregt. Bethel Henry Strousberg, einflussreicher Unternehmer im Eisenbahnwesen, las die Denkschriften aus den 1860er Jahren und zog eigene Schlüsse. Interessanterweise beurteilte er das Kanalprojekt aus preußischer Sicht und sah es als eine Möglichkeit, die privilegierte ökonomische Stellung der Hansestädte zu untergraben. Im- und Export von Waren sei bis dato allein ihnen zugutegekommen.[3]

Strousberg regte sogar eine Erweiterung des Projektes an, wonach Elbe und Oder durch einen Kanal verbunden werden sollten.[4] Seine Ideen müssen unzweifelhaft im Kontext jener Zeit gesehen werden, sie sind Kind der zeitgenössischen Euphorie rund um den Kanalbau. Für die privilegierten Gesellschaftsschichten der Industrialisierung schien kein Projekt zu tollkühn, als dass man es nicht zumindest in Erwägung ziehen könnte. Viele Militärs aber waren weniger angetan vom Durchstich Schleswig-Holsteins.

Einer der erbittertsten Gegner des Kanalbaus war Helmut von Moltke, Preußens höchster General in den drei Einigungskriegen. Moltke kannte Schleswig-Holstein aus seiner Karriere heraus sehr gut. In einer Reichstagssitzung am 23. Juni 1873 verlieh er seiner Ablehnung des Kanalbaus Nachdruck. Er kritisierte die Kosten des Projekts und befürchtete, der Kanal werde wenigstens 100 Tage im Jahr zugefroren sein. Vornehmlich käme er vor allem anderen Staaten zugute und weniger dem Deutschen Reich. Überdies bestritt der Generalfeldmarschall den militärischen Nutzen der Wasserstraße.[5] Diese Bedenken teilten auch andere Militärs, die zivilen Aspekte und Vorteile hatten für sie nachgeordnete Priorität. Reichskanzler Bismarck und einflussreiche norddeutsche Reeder drängten auf den Bau des Kanals, der jedoch einstweilen einer zu großen Opposition gegenüberstand.

Erst ein Konsortium um Heinrich Dahlström, Schiffsmakler aus Hamburg, brachte den Bau voran. Er hatte Strousbergs Studie gelesen und fand Gefallen an dem Bau, an dessen Elbe-Oder-Projekt allerdings eher weniger. Seine Broschüre „Die Ertragsfähigkeit eines schleswig-holsteinischen Schiffahrtskanals [sic]“ überzeugte schließlich die Reichsregierung.[6] Dahlström hatte bald seinen Spitznamen im Volk gefunden: Kanalström.

Im März 1880 erhielt er die Erlaubnisse zu den Vorarbeiten, erst im März 1886 aber stimmte der Reichstag dem „Gesetz betreffend die Herstellung eines Nord-Ostsee-Kanals“ zu. Die Grundsteinlegung erfolgte 1887.

Eine „Kanal-Commission“ hatte die Führung inne und musste bereits auf den ersten Kilometern den Verlauf des Kanals anpassen, der schwierige Untergrund machte dies notwendig. Arbeitskräfte aus ganz Europa wurden angeworben und arbeiteten am Jahrhundertprojekt des jungen deutschen Nationalstaates.

Ihre Versorgung war für die damalige Zeit vorbildlich, die Kommission veranlasste den Bau beheizter Baracken, auch die Nahrungsmittelversorgung war gut. Dies war selbstverständlich nicht nur ein humanitärer Akt: Die Zufriedenheit der Arbeiter sollte auch vermeintlicher sozialdemokratischer und anarchistischer Agitation die Grundlage entziehen. Zehn Stunden pro Tag stellte ein Kanalarbeiter seine Muskelkraft zur Verfügung, die allerjüngsten waren erst 15 Jahre alt.[7]

Konflikte gab es nicht zuletzt mit den lokalen Kommunen, die sich mit dem Bau auf ihrem Grund und Boden arrangieren mussten. Besonders hart traf es die Gemeinde Sehestedt. Die kleine Ortschaft liegt zwei Kilometer östlich von Rendsburg, das dort ursprünglich liegende Gut gehörte zu den ältesten des Herzogtums Schleswig. Auch das konnte nicht verhindern, dass der Ort von den Kanalbauarbeiten in den 1890er Jahren für immer zerschnitten wurde, nur eine Fähre verbindet Nord- und Südteil der Gemeinde miteinander. Mit einer Prise Selbstironie wirbt Sehestedt um Touristen mit dem Slogan: „Das Dorf, durch das ein Kanal fließt.“[8]

Mit der eingangs beschriebenen Zeremonie erfolgte 1895 die Eröffnung des Kanals. Die Umbenennung vom zunächst informellen Namen „Nord-Ostsee-Kanal“ zu „Kaiser-Wilhelm-Kanal“ war beinahe obligatorisch. Wilhelm II., Enkel Wilhelms I., forcierte im gesamten Reich die Verehrung seines Großvaters. Oftmals wurde von letzterem als Wilhelm dem Großen gesprochen oder – in Anknüpfung an den mittelalterlichen Kaiser Friedrich Barbarossa – von „Barbablanca“.[9] 1948 wurde der Kanal auf Bestreben der Alliierten in seinen alten Namen zurückbenannt.

Allerdings war der Kanal bereits bei seiner Eröffnung nicht mehr auf der technischen Höhe der Zeit. Umgehend nach der Einweihung war eine Erweiterung vonnöten, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihr Ende fand. Die Annahme Moltkes, dass der Kanal nur nachgeordnete militärische Bedeutung haben würde, erfüllte sich im Übrigen,:. Der jährliche Anteil der den Kanal durchfahrenden Kriegsschiffe überschritt nie einen Anteil von drei Prozent.[10] Auch in beiden Weltkriegen hatte er keine herausragende Bedeutung.

Heute erscheint er als ein Symbol für den Fortschrittsglauben des späten 19. Jahrhunderts, zugleich aber auch als Zeichen der damaligen Globalisierung, die uns heute nur allzu vertraut erscheint. Denn erst im 21. Jahrhundert, nach Weltkriegen und Ost-West-Konflikt, erreichten Handel und Vernetzung wieder denselben Stellenwert wie vor 1914.

Literatur

  • Durchstich der Holsteinischen Landenge zwischen Ostsee und Nordsee. Schleswig. 1863.
  • Jensen, Waldemar. Der Nord-Ostsee-Kanal. Eine Dokumentation zur 75-jährigen Wiederkehr der Eröffnung. Neumünster. 1970.
  • Kieler Committee für den Kanalbau. Denkschrift über den grossen Norddeutschen Kanal zwischen Brunsbüttler Koog an der Elbe und dem Kieler Hafen. Kiel. 1865.
  • Münkler, Herfried. Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin. ²2009.
  • Strousberg, Bethel Henry. Berlin, ein Stapelplatz des Welthandels durch den Nord-Ostsee-Kanal. Berlin. 1878.

[1] Durchstich der Holsteinischen Landenge zwischen Ostsee und Nordsee. Schleswig. 1863. S. 5.

[2] Ebd. S. 69.

[3] Strousberg, Bethel Henry. Berlin, ein Stapelplatz des Welthandels durch den Nord-Ostsee-Kanal. Berlin. 1878. S. 8.

[4] Ebd. S. 13.

[5] https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k1_bsb00018363_00667.html zuletzt aufgerufen am 24. Juli 2020 um 19.00 Uhr.

[6] Jensen, Waldemar. Der Nord-Ostsee-Kanal. Eine Dokumentation zur 75-jährigen Wiederkehr der Eröffnung. Neumünster. 1970. S. 47.

[7] Ebd. S. 65.

[8] Siehe: http://www.sehestedt.de/, zuletzt aufgerufen am 24. Juli 2020 um 19.00 Uhr.

[9] Münkler, Herfried. Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin. ²2009. S. 60 – 64.

[10] Jensen, Waldemar. Der Nord-Ostsee-Kanal. S. 104.

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