Vor 75 Jahren endete auch in Norddeutschland der Zweite Weltkrieg. Vielerorts wurden kurz zuvor noch Endphaseverbrechen begangen, brutale Morde an KZ-Häftlingen, Zwangsarbeitern, Gefangenen, und Zivilisten. Im Emsland spielte sich eine Tat ab, die besonders irrsinnig wirkt. Der Täter war ein junger Hochstapler. – Von Florian Tropp
All dressed in uniforms so fine
They drank and killed to pass the time
Wearing the shame of all their crimes
With measured steps, they walked in line
(Joy Division, They walked in line, 1978)[1]
Nun stand er also auf dem Appellplatz des Gefangenenlagers. Die Uniform des Hauptmanns saß tadellos, sein schneidender Blick musterte die Angetretenen. So hatten sich die Verantwortlichen vor Ort das erhofft. Endlich war jemand da, der Ordnung schaffen würde. Mit Befehl von allerhöchster Stelle, vom „Führer“ persönlich.
Doch nichts davon war echt: Willi Herold, so der Name des Hauptmanns, war im April 1945 erst 19 Jahre alt. Er war nie an einer Militärakademie gewesen, er war bloß einfacher Gefreiter. Natürlich hatte er keine Befehle direkt von Hitler entgegen genommen. Dennoch glaubten die Verantwortlichen vor Ort daran, sie wollten es womöglich auch nur allzu gerne.
Bis hierher könnte der Leser annehmen, es handele sich möglicherweise um eine amüsante Episode wie die des Hauptmanns von Köpenick. Doch Herold schlug innerhalb weniger Tage eine tödliche Schneise durch das Emsland. Seine Männer mordeten im Dutzend internierte Deserteure, vermeintliche Spione und unbescholtene Leute vom Dorf, die den Wahnwitz des Kampfes bis zum letzten Mann für den „Endsieg“ nicht mehr mitmachen wollten.
Dass es im Frühjahr 1945 noch zu einer Vielzahl von Endphaseverbrechen kam, wo doch der Ausgang des Krieges bereits eindeutig war, hat die Geschichtsforschung lange beschäftigt. Vielerorts wurde mit blindem Fanatismus weitergekämpft und in letzter Sekunde Verbrechen an Menschen verübt, die das NS-Regime als „minderwertig“ stigmatisiert hatte. Insgesamt 288 solcher Massaker wurden allein von Justizbehörden der Bundesrepublik aufgearbeitet. 114 dieser Verfahren hatten Erschießungen von Häftlingen oder Fremdarbeitern zum Inhalt, in aller Regel waren Angehörige von Gestapo, Polizei und Volkssturm angeklagt.[2]
Was derweil über Willi Herold bekannt ist, stammt im Wesentlichen aus Aussagen gegenüber seinen britischen Vernehmern, denen er im Verhör nach Kriegsende gegenübersaß. Und es lässt sich konstatieren: Er war offenbar ein ganz normaler junger Mensch. Wäre der Krieg nicht gewesen, Herold wäre womöglich nie aus seiner sächsischen Heimat hinausgekommen und hätte ein Berufsleben im krisensicheren Job eines Schornsteinfegers verbracht.
Angeblich sei er ein Freidenker gewesen, der als Jugendlicher aus der Hitlerjugend ausgeschlossen worden sei, was freilich allein auf seiner Aussage beruhte.[3] Kurz nach seinem 18. Geburtstag wurde der Schornsteinfeger zur Wehrmacht eingezogen, kämpfte vornehmlich an der italienischen Front, im Frühjahr 1945 befand sich seine Kompanie jedoch im deutsch-niederländischen Grenzgebiet. Hier verlor er am 3. April den Kontakt zu seiner Truppe und irrte zunächst allein umher.
Herold kam der Zufall zu Hilfe, als er in der Grafschaft Bentheim ein liegengebliebenes Auto entdeckte, darin eine Kiste samt der Uniform eines Hauptmanns der Luftwaffe. Kurzerhand zog Herold die Uniform an. Allein stand Herold auf der Straße, als Hauptmann, aber ohne Untergeben. Kurz darauf aber wurde der Obergefreite Reinhard Freitag auf ihn aufmerksam, der ebenfalls allein durchs Niemandsland irrte. Binnen kurzer Zeit unterstellten sich weitere Soldaten dem Kommando des „Hauptmanns“, der erstmals ein Gefühl von Macht und Befehlsgewalt spürte. Herold begann nun sich in seiner neuen Rolle zu sonnen.
Sein Trupp begab sich nach Meppen, wurde dort vorübergehend entwaffnet, ehe sich ein anderer Offizier für den falschen Hauptmann verbürgte und seine Soldaten wieder in den Besitz ihrer Gewehre und Pistolen kamen. Offenbar beeindruckte Herold schnell in seiner neuen Rolle als schneidiger Offizier. Sein jugendliches Alter irritierte nicht, in die ausgedünnten gehobenen Dienstränge steigen in den letzten Kriegswochen viele junge Männer auf. Auf Vermittlung der NSDAP-Dienststelle in Haren/Ems erhielt Herold gar einen LKW und einen PKW für sich, zudem konnte er ein Flak-Geschütz requirieren.[4] Kleine Vorstöße in Richtung Front blieben jedoch erfolglos.
Am 11. April gegen 11.30 Uhr erschien Herold, mitsamt seiner Garde, im Lager Ascherdorfermoor II, wahrscheinlich mit dem Ziel, dort an weiteren Kraftstoff für die Fahrzeuge zu gelangen.[5] Zum Großteil waren dort Militärstrafgefangene interniert. Die Verantwortlichen der Lagermannschaft waren hocherfreut über die Ankunft des jungen Hauptmanns, der vermeintlich von Hitler selbst den Befehl hatte, hinter der Front für Ordnung zu sorgen.
Die Lager im Emsland gehörten zu den frühesten organisierten Einrichtungen dieser Art im nationalsozialistischen Deutschland. Sie waren der Justizbehörde unterstellt, anders als die zahlreichen Lager, die der SS zugeteilt waren. Einen furchterregenden Ruf hatten sie dennoch von Beginn an. Mit primitiven Mitteln sollten die Häftlinge die Moorlandschaft kultivieren. Das von einigen der ihren gedichtete „Moorsoldatenlied“, das ihren brutalen Alltag behandelte, war bald über den Mikrokosmos der Konzentrationslagers hinaus bekannt. Ab Kriegsbeginn wurden in den 15 Lagern im deutsch-niederländischen Grenzgebiet immer mehr „wehrunwürdig“ gewordene Personen eingesperrt. 1944 waren 55% aller deutschen Militärstrafgefangenen in den Emslandlagern interniert.[6]
Karl Schütte, der Chef der Wachmannschaft in Aschendorfermoor II, erwähnte Herold gegenüber die Probleme im überbelegten Lager. Dort waren in den vergangenen Tagen mehrere Gruppen von Häftlingen aus bereits aufgelösten Lagern angekommen. Zudem seien mehrere Gefangene geflohen und terrorisierten nun die Umgebung. Ob Herold nicht ein Standgericht verfügen könne, um wieder Ordnung zu schaffen, fragte er. Dass damit letztlich die Erschießung der Häftlinge gemeint war, war beiden klar.
Exemplarisch wird hier der Charakter der im NS-Staat personalisierten Herrschaft Hitlers deutlich. Eine Verfassung, die seinen Handlungsspielraum in irgendeiner Form eingeschränkt hätte, existierte nicht. Die Weimarer Verfassung war suspendiert worden, juristisch herrschte der Ausnahmezustand in Deutschland. Es gab keine höhere Instanz als das Wort Hitlers, auf das sich die Akteure hier beriefen. Der Staatsrechtler Carl Schmitt hatte schon im Rahmen des „Röhm-Putsches“ 1934 postuliert: „Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch [sic], wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft.“[7] Da Hitler zugleich Oberbefehlshaber der Wehrmacht war, galt dies auch in Kriegszeiten.
Herolds vorgeblicher Befehl von allerhöchster Stelle hebelte umgehend die Hierarchie im Lager aus, die Wachleute von SA und Volkssturm waren nun vom Veto der Lagerleitung entkoppelt. Der Hauptmann inspizierte zunächst das Lager, gab sich herrisch und berauschte sich offenbar an seiner Macht über die Gefangenen. Schon jetzt scherte er sich nicht mehr um Dienstwege, die ersten fünf Häftlinge wurden hier bereits erschossen.

Die lokalen Autoritäten der Justiz wurden völlig überrumpelt von der Situation. Lagerleiter Hansen hielt Rücksprache mit seinem Vorgesetzten Thiel in Papenburg. Herold und Schütte holten sich derweil bei der örtlichen Dienststelle der NSDAP die Erlaubnis für ihr Massaker. Am 12. April trat Herold, begleitet von zwölf seiner Männer, vor die angetretenen Häftlinge. Er sprach laut, bündig und seine Aussagen ließen keine Fragen darüber zu, was er vorhatte: „Keiner soll sich einbilden davonzukommen. Es werden alle umgelegt!“[8]
Umgehend wurden zwei Gefangene getötet, die aus der Herkunftsregion des Hauptmanns stammten, den zweiten erschoss er persönlich. Basierend auf einer Liste von 400 Regimegegnern, die Thiel zusammengestellt hatte, wählten Schütte und Herold wahllos 96 Männer aus, die am Abend von dem in Meppen besorgten Flakgeschütz niedergemäht wurden. Als das Geschütz versagte, vollendeten sie ihre Tat mit Gewehrschüssen und Granaten. Es wurden keine Mühen unternommen, den Morden durch ein Standgericht ein juristisches Mäntelchen umzuhängen.
Am nächsten Tag ging das Morden weiter, zunächst im Lager, anschließend durchkämmten Herolds Männer und Angehörige der Wachmannschaften die Umgebung nach entflohenen Häftlingen und fanden weitere Opfer. Niemand hinterfragte die Herkunft des Hauptmanns, der so plötzlich aus Aschendorfermoor verschwunden war, wie er erschienen war: Denn nachdem britische Bomber das Lager am 19. April schwer getroffen hatten, brachen Herold und seine Einheit umgehend ihre Zelte ab.
Die unheilvolle Soldateska zog weiter, auf der Suche nach Unterkunft und Zerstreuung, frei nach dem Motto: „Genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich.“ Staatliche Autorität existiert nicht mehr, Herolds Kompanie hatte das Gewaltmonopol inne. Davon machte sie weiterhin ausführlich Gebrauch, ein Hauch von Wilder Westen, aber mit mörderischem Ernst.
In Papenburg erhängten sie den Landwirt Nicolaus Spark, der eine weiße Fahne gehisst haben soll.[9] In Leer fielen Herold fünf Niederländer in die Hände, die verschleppte Zwangsarbeiter retten wollten. Wie zuvor in Aschendorfermoor hebelte er die juristische Hierarchie aus, befahl ein Standgericht und ließ die Gefangenen nach zehn Minuten Schauprozess als Spione erschießen. Nirgendwo stellte ihm sich jemand in den Weg.
Seine Glückssträhne endete kurz darauf in Aurich, wo die Feldgendarmerie ihn aufgriff. Wie durch ein Wunder wurde er durch kein Armeegericht zum Tode verurteilt, sondern sollte sich in einem Sonderbataillon bewähren. Vielen Angehörigen in Wehrmacht und Gestapo imponierte Herold offenbar immer noch.
So konnte er noch für einige Wochen untertauchen, ehe ihn die Briten in Wilhelmshaven festnahmen. Erst jetzt kam das ganze Ausmaß der Taten ans Licht. Mindestens 136 Männer waren in Ascherdorfermoor ermordet worden, dazu eine unbekannte Zahl weiterer Häftlinge und Zivilisten.[10]
Kann es eine Antwort für eine vollkommen grundlose Tat wenige Tage vor Kriegsende geben? Selbst Herold konnte sie nicht genau erklären, vor Gericht gab er zu Protokoll: „Warum ich nun eigentlich die Leute im Lager erschossen habe, kann ich gar nicht einmal sagen.“[11] Herold, Schütte und fünf weitere Angeklagte wurden zum Tode verurteilt und am 14. November 1946 in Wolfenbüttel enthauptet.
Literatur
- Curtis, Deborah; Savage, Jon (Hgg.). So This is Permanence. Joy Division Lyrics and Notebooks. London. 2014.
- Garbe, Detlef (Hg.). Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik. Merten-Bornheim. 1983.
- Hensmann, Menna. Dokumentation Leer 1933-1945. Leer. 2001.
- Hermanns, Stefan. Carl Schmitts Rolle bei der Machtkonsolidierung der Nationalsozialisten. Ein. Engagement auf Zeit. Neubiberg. 2017.
- Kershaw, Ian. Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45. München. 2011.
- Knoch, Habbo. Die Emslandlager 1933-1945. In: Benz, Wolfgang; Distel, Barbara. Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 2. München. 2015. S. 533 – 571.
- Krogmann, Karsten. Der Mörder mit der Ordensbrust. Veröffentlicht unter: https://www.nwzonline.de/region/der-moerder-mit-der-ordensbrust-der-moerder-mit-der-ordensbrust_a_15,0,1418329946.html
- Peters, Heinrich; Peters, Inge. Pattjackenblut. Antreten zum Sterben – in Linie zu 5 Gliedern. Das „Herold“-Massaker im Emslandlager II Aschendorfermoor im April 1945. Norderstedt. 2014.
- Pfaffenzeller, Martin. Kleider machen Mörder. Veröffentlicht unter: https://www.spiegel.de/geschichte/massenmoerder-willi-herold-der-henker-vom-emsland-a-1159937.html
[1] Curtis, Deborah; Savage, Jon (Hgg.). So This is Permanence. Joy Division Lyrics and Notebooks. London. 2014. S. 25.
[2] Kershaw, Ian. Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45. München. 2011. S. 407.
[3] Pfaffenzeller, Martin. Kleider machen Mörder. Veröffentlicht unter: https://www.spiegel.de/geschichte/massenmoerder-willi-herold-der-henker-vom-emsland-a-1159937.html, zuletzt aufgerufen am 18. April 2020, 12.00 Uhr.
[4] Peters, Heinrich; Peters, Inge. Pattjackenblut. Antreten zum Sterben – in Linie zu 5 Gliedern. Das „Herold“-Massaker im Emslandlager II Aschendorfermoor im April 1945. Norderstedt. 2014. S. 176.
[5] Ebd. S. 182.
[6] Knoch, Habbo. Die Emslandlager 1933-1945. In: Benz, Wolfgang; Distel, Barbara. Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 2. München. 2015. S. 533 – 571. Hier: S. 552.
[7] Hermanns, Stefan. Carl Schmitts Rolle bei der Machtkonsolidierung der Nationalsozialisten. Ein. Engagement auf Zeit. Neubiberg. 2017. S. 290.
[8] Peters. Pattjackenblut. S. 199.
[9] Hensmann, Menna. Dokumentation Leer 1933-1945. Leer. 2001. S. 430.
[10] Peters. Pattjackenblut. S. 230.
[11] Krogmann, Karsten. Der Mörder mit der Ordensbrust. Veröffentlicht unter: https://www.nwzonline.de/region/der-moerder-mit-der-ordensbrust-der-moerder-mit-der-ordensbrust_a_15,0,1418329946.html, zuletzt aufgerufen am 18. April 2020, 12.00 Uhr.