Die traurige Geschichte eines Hamburger Originals

2016 jährte sich der Tod der Zitronenjette zum 100. Mal. Die alteingesessenen Hamburger verbinden mit diesem Namen ein „Hamburger Original“, das in der Folklore der Stadt weiterlebt: als lächelnde Skulptur oder als humoristisches Stück auf der Bühne des St. Pauli-Theaters. Dabei war das reale Leben der Zitronenjette mühselig und trist. Vornehmlich wurde nur über sie – nicht mit ihr – gelacht. Umso erstaunlicher ist das heitere Andenken. – Von Florian Tropp

Im August 2013 ging ein Aufschrei durch die Hamburger Lokalpresse – die Zitronenjette war verschwunden! Seit 1986 stand sie als Bronze-Skulptur des Künstlers Hansjörg Wagner an der Ludwig-Erhard-Straße, nun war der Platz leer. Die große Aufregung legte sich schnell, als das Bezirksamt bekanntgab, sie werde wieder das Stadtbild schmücken, sobald der Bau eines neuen Hotels unweit des Michels abgeschlossen sei.[1]

Tatsächlich steht Jette inzwischen wie eh und je wieder an ihrem Stammplatz. Von einem Sockel blickt sie als Denkmal milde lächelnd zu den Besuchern herab und bietet den Passanten Zitronen aus einem Korb an. Wer kurz vor ihr innehält, der sieht alle paar Minuten einen Fußgänger im Vorbeigehen einen Finger der Zitronenjette berühren: Wer an dem ausgestreckten Zeigefinger der resoluten Dame reibt, dem soll es laut Volksmund Glück bringen. Die Inschrift auf dem Sockel verrät, dass das Leben für die Zitronenjette hingegen, die mit vollem Namen Henriette Johanne Marie Müller hieß, vor allem hart und mühselig war. So steht dort auf Plattdeutsch geschrieben: „Dien Leben wer suur as de Zitroonen, sall sick dat Erinnern an di lohnen? Dien Schiksol wiest op all de Lüüd, for de dat Glück het gor keen Tiet.“ („Dein Leben war sauer wie die Zitronen, soll sich das Erinnern an dich lohnen? Dein Schicksal weist auf all die Leute, für die das Glück hat gar keine Zeit.“) Wer war diese vom Glück vergessene Figur der Stadtgeschichte, der man in direkter Nachbarschaft zum Hamburger Michel ein Denkmal errichtete?

Ärmliche Verhältnisse

Ihre Geschichte beginnt nicht an der Waterkant, sondern tief im Landesinneren in Dessau. Hier, in der Hauptstadt des Fürstentums Anhalt-Dessau, wurde die spätere Zitronenjette im Jahr 1841 geboren. Bereits die Startbedingungen waren schwierig: Jette kam als uneheliches Kind zur Welt. Die Mutter sorgte alleine für sie und ihre ältere Schwester. Als Jette erst wenige Monate alt war, zog die Kleinfamilie gemeinsam nach Hamburg. Die Hansestadt war Mitte des 19. Jahrhunderts von einer enormen sozialen und wirtschaftlichen Dynamik geprägt. Der Stadtbrand von 1842 hatte das Wachstum nur kurzzeitig gebremst. Der Wohnungsbau wurde intensiviert, der ökonomische Aufschwung durch Aufhebung von Torsperre und Zunftzwang weiter angekurbelt. Einige Zugezogene sahen die Hansestadt nur als Sprungbrett in die Neue Welt, andere, wie die Müllers aus Dessau, als dauerhafte Bleibe.

Der Umzug führte aber nicht zu einer grundlegenden Verbesserung der Verhältnisse der Familie. Jettes Mutter heiratete zwar und gebar weitere Kinder, Henriette selbst aber blieb in ihrer Entwicklung zurück. Weder besuchte sie eine Schule, noch galt sie als körperlich erwachsen – Zeit ihres Lebens wurde sie nicht größer als 1,32 Meter.3 Zudem fiel beim Blick in ihr Gesicht vor allem die platt gedrückte Nase auf. Nachdem Jettes Mutter verstorben war, versuchte sie sich gemeinsam mit ihrer älteren Schwester über Wasser zu halten. Beide lebten im Gängeviertel, der eng bebauten Gegend unweit des Hafens. Auswanderer, Hafenarbeiter und sozial Schwache lebten hier auf engstem Raum zusammen – ein monotones Miteinander unter den Vorzeichen von Arbeit, Dreck und wenig Privatsphäre. [2]

Um das Einkommen des kleinen Haushaltes aufzubessern, begann Jette im Alter von 13 Jahren damit, am Kai den Überseeschiffen Südfrüchte, vornehmlich Zitronen, abzukaufen und eigenständig an den Mann oder die Frau zu bringen. Fortan wanderte die kleine Gestalt durch die Gegend am Hafen, die Zitronen der Legende nach in einem Korb mit sich schleppend, ständig ausrufend: „Zitroon, Zitroon!“

Ziel von Spott und Hohn

Sich in diesem rauen Umfeld durchzusetzen, wird ihr nicht leicht gefallen sein. Nicht nur, dass sie klein gewachsen war, ebenso war es den Kunden ein Leichtes, sie aufgrund ihrer mangelnden Bildung und einer gewissen Zurückgebliebenheit, über den Tisch zu ziehen. Weiter als bis Sechs konnte sie angeblich kaum zählen. Zudem machten sich vor allem Jugendliche die Erscheinung der Zitronenjette zunutze: Aus ihrer Überlegenheit heraus stellten sie ihr nach und spielten ihr mitunter derbe Streiche. Dies war besonders der Fall, wenn Jette nach einem langen Arbeitstag abends in eine der Spelunken einkehrte und wohl nicht selten ihren gesamten Gewinn des Tages verzechte. Oft genug machten sich die Besucher der Kneipen einen Spaß daraus, der Zitronenjette einen „Lütt un Lütt“ (Bier und Korn) nach dem nächsten zu bestellen, ehe sie nach Hause ins Gängeviertel torkelte. Die Kulturwissenschaftlerin Claudia Gottwald erkennt in dem Verhalten der Menschen gegenüber der Zitronenjette ein gängiges Muster des belustigten Umgangs mit behinderten Menschen: In Kreisen der höheren Gesellschaftsschichten hatten lange Zeit Hofnarren- und zwerge für Unterhaltung gesorgt. Im Rahmen des Entstehens einer Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit und der immer zahlreicher werdenden Publikationsmöglichkeiten wurden nun auch außerhalb der Höfe physisch und psychisch auffällige Personen medial verewigt. Erzählungen, Gedichte und Lieder über „Originale“ und andere auffällige Personen ließen sich schnell verbreiten.[3] In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden, vor allem auf Jahrmärkten, auch sogenannte „Freak Shows“ populär, in denen einem Publikum solch vermeintliche „Sonderlinge“ vorgeführt wurden.

Für die Zitronenjette vergingen derweil viele Jahre, ohne dass sich etwas an ihrer Situation änderte. Allmählich verwuchs Henriette mit dem Milieu um sie herum und wurde von alteingesessenen Hamburgern wie auch von Besuchern als Teil der Stadtlandschaft wahrgenommen. Wer Hamburg kannte, der kannte bald auch die Zitronenjette. Im Jahr 1894 aber griff schließlich der lange Arm der Staatsmacht zu. Nachdem die Hamburger Polizisten, die „Udels“, sicher das eine oder andere Mal beide Augen zugedrückt hatten, wenn Jette auch tagsüber vom Alkohol benebelt orientierungslos umherirrte, griffen sie diesmal zu. Gegen ihren Willen wurde sie in die damalige Irrenanstalt Friedrichsberg eingeliefert, auf deren Gelände heute die Schön Klinik Hamburg Eilbek beheimatet ist. Zumindest war die dortige Einrichtung eine der modernsten ihrer Zeit, in der die rabiaten Methoden, die lange Zeit in psychiatrischen Kliniken Alltag waren, nicht mehr angewendet wurden. Auch konnten sich die Insassen frei bewegen.[4] Ob die Zitronenjette als psychisch krank bezeichnet werden konnte, wurde schon von den Zeitgenossen bezweifelt. Der Psychiater Wilhelm Weygandt, der der Anstalt von 1908 bis 1934 vorstand, notierte, sie sei lediglich eine „harmlose Schwachsinnige mit Zwergenwuchs.“ Bis zu ihrem Tod im Jahr 1916 soll sie überwiegend in der Küche der Anstalt mit angepackt haben.[5]

Die Mythisierung beginnt

Außerhalb der Mauern der Klinik in Friedrichsberg setzte derweil die Mythisierung der Zitronenjette ein. Losgelöst von der realen Persönlichkeit begann eine Transformation des Individuums zur Bühnenfigur. Bereits im Jahre 1900 erfolgte am späteren St. Pauli-Theater erstmals die Aufführung eines Stücks, deren Protagonistin die Zitronenjette war. Ohne Frage erhöhte dies die Popularität der Figur weiter. Nach dem Ersten Weltkrieg war sie bereits so bekannt, dass sie neben anderen Hamburger Originalen auf Notgeldscheinen erschien.[6] Die bekannteste Bühnenbearbeitung der historischen Figur folgte in den 1920er Jahren durch Paul Möhring, der für sein volkstümliches Schauspiel intensiv recherchierte und mit älteren Hamburgern sprach, die die Zitronenjette noch persönlich erlebt hatten. Es gelang ihm sogar, ihren Namen im Geburts- und Taufregister in Dessau ausfindig zu machen.[7] Möhring ging es letztlich um eine möglichst wirklichkeitsgetreue Darstellung der Person, deren Werdegang bei ihm nicht zuletzt großes Mitleid erregte.

In seiner Studie gab Möhring auch zu bedenken, wie die Zitronenjette am besten darzustellen sei: Es sei demnach zu verhindern, sie einzig als lustige Figur zu zeigen, da dies mit der realen Person wenig zu tun habe. Laut eigener Aussage war es sein Ziel, die Zitronenjette „möglichst lebensecht auf die Bühne zu bringen, sie so darzustellen, wie sie wirklich war, wie sie aussah und wie sie lebte.“[8] Die finale Umsetzung des Stoffes ließ dann wenig übrig von dem Drama einer Person, die nicht in der Lage war, die Reaktion der Umwelt auf sie klar zu erfassen.

Insbesondere die Darstellung durch den Hamburger Volksschauspieler Henry Vahl, dessen letzte Paraderolle die der Zitronenjette war, brannte sich in das Gedächtnis der Nachwelt ein. Insgesamt 168-mal verkörperte er die Zitronenjette.[9] Bereits der Umstand, dass diese Rolle in aller Regel von einem Mann gespielt wurde, lässt darauf schließen, dass die Rolle von vornherein humorvoll angelegt war. Wie zu erwarten, fremdelte Möhring mit dieser Umsetzung seiner Recherche als Bühnenstück.

Verfälschte Erinnerung

Je weiter die Zeit voranschritt, umso mehr verwischte die Figur der Zitronenjette. In der Erinnerung an sie traten immer mehr Verformungen auf, ehe die (pop-)kulturelle Darstellung auf Bühne und im Stadtbild die tatsächliche Person endgültig überlagerte. Bald schon bildete sie im Gedächtnis der Hamburger eine Einheit mit anderen populären Figuren der Stadt, vor allem mit Hans Hummel.

Dabei hatten beide nicht zeitgleich in Hamburg gewirkt. Der Wasserträger war verstorben, als Jette noch ein Kind war. In der Erinnerung aber wurden beide für die Hamburger Bürger zur Allegorie einer „guten alten Zeit“ im Hamburg des 19. Jahrhunderts. Die negativen Aspekte dieser Jahre, wie der Große Brand von 1842 oder die Choleraepidemie im Jahr 1892, wurden aus der Erinnerung vieler Menschen verdrängt. Ebenso wurden die traurigen Seiten im Leben dieser Hamburger Originale ausgespart.

So dient die Zitronenjette heute als Staffage für verschiedenste Umstände, bei denen eine besondere Verbundenheit mit Hamburg dargestellt werden soll. Rituale der Stadt lassen sie weiterleben und so ist sie auch den Hamburgern des 21. Jahrhunderts immer noch ein Begriff. Auch im nächsten Jahr am 1. Januar werden wieder zwei Schauspieler beim Neujahrsempfang des Senats als Hummel und Zitronenjette erscheinen. Die Transformation von der historischen Persönlichkeit, einer Frau am unteren Ende der Gesellschaft, hin zum allseits beliebten Maskottchen einer Weltstadt, scheint damit abgeschlossen.

Literatur:

  • Bake, Rita: Zitronenjette, in: Kopitzsch, Franklin; Brietzke, Dirk (Hrsg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Band 1, Hamburg 2001, S. 368.
  • Busch, Michael: Vahl, Henry, in: Kopitzsch, Franklin; Brietzke, Dirk (Hrsg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Band 2, Hamburg 2003, S. 425 f.
  • Gottwald, Claudia: Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung, Bielefeld 2009, S. 147 f.
  • Möhring, Paul: Zitronenjette. Ein Hamburger Original, Hamburg 1940.

[1] http://www.bild.de/regional/hamburg/hamburg/zitronenjette-heimlich-verschleppt-32021648.bild.html, zuletzt aufgerufen am 19. Juni 2016 um 18.00 Uhr.

[2] Gottwald, Claudia: Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung, Bielefeld 2009, S. 147 f.

[3] Ebd.

[4] http://www.abendblatt.de/hamburg/magazin/article132914591/Die-erste-Irrenanstalt-ohne-Gitter-wurde-vor-150-Jahren-eroeffnet.html, zuletzt aufgerufen am 19. Juni 2016 um 18.00 Uhr.

[5] Bake, Rita: Zitronenjette, in: Kopitzsch, Franklin; Brietzke, Dirk (Hrsg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Band 1, Hamburg 2001, S. 368.

[6]http://stadtteilgeschichten.net/bitstream/handle/2339/3510/Notwechselgeld%201%20Mark%20V.jpg?sequence=1, zuletzt aufgerufen am 19. Juni 2016 um 18.00 Uhr.

[7] Möhring, Paul: Zitronenjette. Ein Hamburger Original, Hamburg 1940, S. 24.

[8] Ebd. S. 7 f.

[9] Busch, Michael: Vahl, Henry, in: Kopitzsch, Franklin; Brietzke, Dirk (Hrsg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Band 2, Hamburg 2003, S. 425 f.