…“denn Hülfe ist nicht mehr da…“

„Nordsee ist Mordsee“ – das wissen die Menschen in Friesland seit Jahrtausenden. An Weihnachten 1866 forderte sie ein besonders tragisches Opfer, als ein junger Seemann irrtümlich im Watt ausgesetzt wurde. Sein Name wurde zur Legende auf den dortigen Inseln. – Von Florian Tropp

Blick von Baltrum aufs Watt hinaus

Liebe Mutter! Gott tröste Dich, denn Dein Sohn ist nicht mehr. Ich stehe hier und bitte Gott um Vergebung meiner Sünden. Seid alle gegrüßt.[1]

Zwischen Norderney und Langeoog liegt die ungleich kleinere Insel Baltrum. Erst im 20. Jahrhundert wurde Baltrum auch für den Tourismus zunehmend interessant. Wer auf dem Eiland geboren wurde, dem blieb lange nichts anderes übrig, als eine Zukunft im Fischereiwesen oder der Seefahrt zu suchen. Tjark Evers sollte einer dieser Seeleute werden.

Er kam 1845 auf der Insel zur Welt. Wie viele seiner Vorfahren war auch ihm bestimmt, zur See zu fahren. In Timmel, im Landkreis Aurich, ging Evers zur Winterzeit auf die Navigationsschule.  Eine Laufbahn auf den sieben Weltmeeren schien ihm vorgezeichnet zu sein. Die Seefahrt florierte im 19. Jahrhundert immens und nahm das vorweg, was wir heutzutage als „Globalisierung“ kennen.[2] Seine Familie auf Baltrum dürfte er nur selten gesehen haben. Zu Weihnachten 1866 wollte der junge Mann sie mit einem Besuch überraschen. So machte er sich am Morgen des 23. Dezembers vom Festland aus auf den Weg zu ihr.

Ich habe das Wasser jetzt bis an die Knie, ich muß gleich ertrinken, denn Hülfe ist nicht mehr da. Gott sei mir Sünder gnädig. Es ist 9 Uhr, Ihr geht gleich zur Kirche, bittet nur für mich Armen, dass Gott mir gnädig sei.

Das Gewässer zwischen den Ostfriesischen Inseln ist tückisch. Genauer gesagt: Das Watt ist tückisch. Wo eben noch (halbwegs) trockenes Land lag, können kurz darauf schon wieder die Wellen übereinander schlagen. Bis heute kommt es dort zu tragischen Unfällen, weil die Gefahren unterschätzt werden. „Viele Leute, die die Küste und das Wattenmeer nicht kennen, haben keine Vorstellung davon, wie schnell das Wasser kommt und dass es aus vielen Richtungen aufläuft. Auch wenn das Wasser nur kniehoch ist, ist die Strömung stärker, als viele denken“, so Antke Reems, Sprecherin der Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS).[3]

Tjark Evers wusste als Ortsansässiger sicher um die Gefahr, er wollte vor 150 Jahren per Boot nach Baltrum gelangen, nicht zu Fuß. Er konnte zwei Männer überzeugen, ihn per Boot aufs Eiland zu bringen. Bei sich trug er eine Zigarrenkiste aus Holz, darin ein Taschentuch, ein Notizheft und ein Bleistift.

Als das Ruderboot ablegt, ist es ein trüber Morgen, wie man ihn oft an der Nordsee erlebt. Dichter Nebel liegt über dem Meer, das Kreischen einer Möwe dürfte kilometerweit zu hören gewesen sein, bei der Stille auf dem Wasser. Die beiden Männer begannen zu rudern. Ein weiterer Passagier wurde zunächst auf Langeoog abgesetzt. Anschließend setzten sie Kurs auf die Insel Baltrum.

Liebe Eltern, Gebrüder und Schwestern, ich stehe hier auf einer Plat und muß ertrinken, ich bekomme euch nicht wieder zu sehen und ihr mich nicht. Gott erbarme sich über mich und tröste euch.

Langsam tastete sich das Boot durch den Nebel, bis es auf Land traf. Das musste Baltrum sein! Voller Freude über die Ankunft verließ Evers schnell das Boot mitsamt seiner Zigarrenkiste und dem Inhalt. Die beiden Männer verschwanden wieder im Nebel. Nun legte sich komplette Stille um den jungen Seemann.

Er machte sich auf den Weg über die Insel, schnell zu seiner Familie. Doch nach kurzer Wanderung durch den Nebel stand er wieder vor den Wogen der Nordsee. Ein schrecklicher Verdacht durchzuckte ihn: War er wirklich auf seiner Heimatinsel angekommen? Oder stand er mutterseelenallein auf einem Stück Land, das bei Ebbe aus dem Watt ragte? Evers rannte zurück zu der Stelle, wo er das Boot verlassen hatte. Keine Spur von mehr von ihm.

Panik darf Tjark Evers nun ergriffen haben, vielleicht lief er nochmals in verschiedene Richtungen, rief in den Nebel, hoffte auf ein Wunder. Ehe dann sein Rufen im Nebel verhallte. Hilfe war auf dieser Sandbank keine mehr zu erwarten. Der 21-jährige wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben dürfte. Es war nur eine Frage von Stunden – wenn überhaupt – ehe dort, wo er gerade stand, wieder das Meer tosen würde.

Ich stecke dieses Buch in eine Sigarren Kiste. Gott gebe, daß Ihr die Zeilen von meiner Hand erhaltet. Ich grüße euch zum letzten Mal. Gott vergebe mir meine Sünden und nehme mich zu sich in sein Himmelreich. Amen.

Er war verloren im Watt, den sicheren Tod vor Augen. Evers griff nach seinem Notizbuch. Er begann zu schreiben. Die hier in kursiv gesetzten, kurzen Abschnitte, sind dem Abschiedsbrief des jungen Mannes entnommen. Sie legen Zeugnis ab von seiner Verzweiflung und sind eine einzigartige historische Quelle. Seine Gedanken galten in diesen Momenten seiner Familie und seinem Seelenheil.

Denkmal auf Baltrum: Evers wird vom Meer verschluckt, kurz vorm Erreichen des heimatlichen Weihnachtsbaums
(Quelle: Sabine Hinrichs, CC-BY-SA DE 4.0, h ttps://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/4b/Tjark_Evers_Denkmal_auf_Baltrum_-_Die_Zigarrenkiste_von_Baltrum.jpg)

Das Notizbuch legte er in die Kiste zurück. Da hatte das Meer längst begonnen, das schmale Stück Land wieder aufzufressen, auf dem Evers‘ Leben nun enden sollte. Bald war keine Spur mehr von ihm. Nur die Zigarrenkiste trieb einsam auf den Wellen umher. Es sollte anderthalb Wochen dauern, ehe sie gefunden wurde.

Ich bin T. Evers von Baltrum.

Der Finder wird gebeten, dieses Buch meinen Eltern zuzuschicken an Cpt. H. E. Evers Insel Baltrum.

Die kleine Kiste wurde auf Wangerooge angetrieben, für Evers‘ Eltern bestätigte sich damit ein schrecklicher Verdacht. Es blieb ihnen ein Funken Hoffnung, dass Tjark vielleicht doch noch aus der Flut gerettet worden wäre. Doch nicht einmal sein Leichnam konnte je gefunden werden. Für die Menschen auf Baltrum wurde Evers zum Mythos.

Wer das erste Mal diese Geschichte vom einsamen jungen Mann im Watt hört, mag sie für eine Legende der ostfriesischen Folklore halten – doch sie ist gut belegt. Am 28. Januar 1867 etwa trug der Pastor Enno Kittel Evers ins Todes- und Begräbnisbuch von Baltrum ein.[4] Die Zigarrenkiste und ihr Inhalt wurden der Familie Evers übergeben.

Sein Schicksal wurde immer wieder in Literatur und Musik verarbeitet. Seit 2015 erinnert sogar eine Skulptur auf seiner Heimatinsel an ihn. Die Exponate selbst sind heute auf Baltrum für die Öffentlichkeit zu sehen. Im dortigen Museum im Alten Zollhaus kann das Publikum, die Zeilen lesen, die der junge Ostfriese kurz vor seinem Tod schrieb.


[1] Der Originaltext ist unter anderem auf der Gedenktafel für Evers auf Baltrum niedergeschrieben. Siehe: https://hanseatischhistorisch.files.wordpress.com/2021/12/99e65-imgp954.jpg, zuletzt aufgerufen am 23.12.21, 14.00 Uhr.

[2] Osterhammel, Jürgen. Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München. 2010. S. 1010-1017.

[3] https://www.weser-kurier.de/niedersachsen/das-watt-ist-gefaehrlicher-als-viele-denken-doc7e3yg4jsjwn1b4h6cl89, zuletzt aufgerufen am 23.12.21, 14.00 Uhr.

[4] https://ostfrieslandreloaded.com/2017/08/31/im-zweifelsfall-toedlich-truegerisches-wattenmeer/ zuletzt aufgerufen am 23.12.21, 14.00 Uhr.

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